Ehrlich mit der Wahrheit

Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Man begegnet diesem Begriff in seiner frühesten Kindheit. Es sind meistens die Eltern, die einen dazu anhalten, immer die Wahrheit zu sagen. Die einem versuchen klarzumachen, dass es wichtig ist, immer ehrlich zu sein. Als Kind war die Welt noch etwas überschaubarer und daher glaubte man zunächst zu verstehen, was die Wahrheit ist. Man sagte eben nicht die Wahrheit, wenn man auf die Frage, ob man den letzten Schokoriegel gegessen habe, den ein anderes Familienmitglied sich extra zurückgelegt hatte, „nein“ antwortete und inständig hoffte, dass da keine verräterischen Spuren am Mund zurückgeblieben waren, die einen der Lüge überführten. Schwieriger wurde es, wenn man bei einer Familienfeier auf Tante Erna traf, die mal wieder ein Kleid mit einem undefinierbaren Muster trug und man in seiner erfrischenden direkten Art eines Kindes nicht gerade in gedämpfter Lautstärke seiner Mutter erklärte, dass das Muster doch sehr merkwürdig sei und hässlich aussehe. Auf das „Psst, nicht so laut“ der Mutter reagierte man dann noch besonders empört und erklärte dann in einer zwar nun eher gemäßigten, aber dennoch in einer für alle vernehmbaren Lautstärke: „Das sagst Du doch auch immer über Tante Ernas Kleider“. Ein paar Jahre später versteht man, warum die Mutter damals besonders verhalten und peinlich berührt auf diese Aussage mit „Psst, nicht so laut“, reagierte, wenn uns nämlich bewusst wird, dass Tante Erna seinerzeit besonders stolz über ihre selbstentworfenen Kleider war und glaubte, sich in den Anfängen der Kariere einer großen Designerin zu sehen. Solche Momente ließen uns damals erahnen, dass die Sache mit der Wahrheit nicht so einfach sein kann, wie es unsere Eltern versuchten uns zu vermitteln.

Wir sollen immer die Wahrheit sagen? Aber wir können nicht immer die Wahrheit sagen, es sei denn wir wollen einsam und verlassen in dieser Gesellschaft vor uns hinleben. Wir können nicht immer sagen, was wir denken, weil wir in gewissen Situationen anderen damit vor den Kopf stoßen würden. Wir können auch nicht immer sagen, was wir fühlen, weil wir damit mitunter komplizierte zwischenmenschliche Verwicklungen auslösen könnten. Wir begreifen dann irgendwann, dass wir persönlich entscheiden müssen, was andere unbedingt wissen müssen und wie wir etwas formulieren, um die sozialen Beziehungen jeder Art eben nicht zu gefährden. Wir verstehen dann auch schnell, dass Wahrheit etwas mit Ehrlichkeit zu tun hat. Und nun mal ehrlich: Wollen wir immer unbedingt wissen, was andere über uns denken oder was andere tun? Nein, wollen wir nicht. Niemand von uns hört gern, dass sein Gegenüber einen unsympathisch findet, dass das Essen, das man mit viel Aufwand und Mühe gekocht hat, dem Bekochten nicht schmeckt oder dass eine Freundin unsere Lieblingsbluse, die wir gerade tragen, ganz schrecklich findet. Man will nicht hören, dass man dicker geworden ist und mit Anfang 30 will man nicht hören, dass einen die meisten auf Mitte 30 schätzen. Also wollen wir manchmal belogen werden? Ist es denn schon eine Lüge und somit die Unwahrheit und unehrlich, wenn wir manchmal Dinge und Empfindungen einfach unerwähnt lassen? Ist es erst unwahr, wenn wir etwas aussprechen? Oder ist es erst unwahr, wenn wir etwas anders darstellen, als wir es in der Realität empfunden haben?

Und schon wären wir bei dem nächsten Problem mit der Wahrheit und Ehrlichkeit. Jeder empfindet und erlebt Situationen, Gesagtes und Gestiken anders. Es gibt unterschiedliche Blickwinkel auf ein und dieselbe Situation. Bei der Auswertung von Zeugenaussagen kommt man da schnell an seine Grenzen, wenn man als Außenstehender zu entscheiden hat, welche Aussage hier der „Wahrheit“ am nächsten kommt. Denn einmal abgesehen von jenen Zeugen, die zum Schutz ihrer eigenen Person und zum Schutz von anderen tatsächlich vorsätzlich lügen, sind da noch die anderen Aussagen jener Zeugen, die hundertprozentig davon überzeugt sind, dass sich die Situation genau so abgespielt hat, aber leider übereinstimmen eben die Darstellungen mehrerer Zeugen zu ein und derselben Situation nicht immer, eben wegen der Sache mit der persönlichen Wahrnehmung. Sagt jemand deswegen nun die Unwahrheit? Es ist eben schwierig, die Wahrheit anderer einzuschätzen oder zu bewerten.

Vielleicht fangen wir einfach mal bei uns an. Versuchen wir doch mit uns ehrlich zu sein und uns mit unserer eigenen Wahrheit auseinander zu setzen. In dem Spiegel uns in die Augen schauen und für uns feststellen, dass ist die Wahrheit. Manchmal ist es hart, mit sich so ehrlich zu sein, manchmal geraten wir mit unserer Lebensphilosophie ins Wanken. Aber manchmal bringt uns die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber auch einen großen Schritt weiter und vielleicht ist genau das der Weg zur Wahrheit.

 

Claudia Lekondra