Ost und West, das ist doch nur eine Himmelsrichtung Teil III - Die Nacht, in der etwas Neues begann

Der für mich persönlich ergreifendste Moment dieser Tage des Jahres 1989 war jener, als ich das erste Mal in meinem Leben unter dem Brandenburger Tor stand. Es war der 22. Dezember 1989. An jenem Abend besuchte ich mit Freunden eine Kinovorstellung am Kurfürstendamm. Beim Verlassen des Kinos hörten wir, wie sich Passanten darüber unterhielten, dass der am Nachmittag geöffnete Grenzübergang am Brandenburger Tor für die West-Berliner an diesem Abend ohne Visum passierbar sei, was bedeutete, dass wir einfach spontan zum Brandenburger Tor fahren konnten.

Eine Vorstellung, die wir erst einmal kurz auf uns wirken lassen mussten. Wir waren alle nach dem Bau der Mauer geboren und es somit nicht gewohnt, spontan und schon gar nicht visumsfrei und ohne Mindestumtausch (von uns auch gern als Zwangsgeldumtausch oder Eintrittsgeld bezeichnet) in die DDR einzureisen. Bei der Einreise in die DDR oder nach Ost-Berlin, anlässlich eines Familienbesuches oder als Tourist, war man verpflichtet, einen bestimmten Betrag in DDR Mark zu einem vorgegebenen Kurs (1:1) zu tauschen. Die Höhe des umzutauschenden Betrages änderte sich über die Jahre mehrmals. Um ein Visum zur Einreise in die DDR oder nach Ost-Berlin zu erlangen, musste man als damaliger West-Berliner eines der fünf im West-Teil der Stadt ansässigen Büros der DDR für Reise- und Besuchsangelegenheiten aufsuchen. Dort wurde das Visum beantragt, das man sich dann nach einer Bearbeitungsdauer von zwei bis drei Tagen abholen durfte. Es war für einen Aufenthalt in Ost-Berlin oder dem Gebiet der DDR für 24 Stunden gültig. Wollte man mehrere Tage in der DDR oder Ost-Berlin verbringen, bedurfte es einer Einladung der Verwandten, die in der DDR lebten. Ausländer und die Bürger der restlichen Bundesrepublik Deutschland hingegen erhielten ihr Visum direkt bei der Einreise in die DDR. Ihnen war es daher möglich gewesen, jederzeit und somit spontan einzureisen.

An jenem Abend machten wir uns also mit dem Auto auf in Richtung Brandenburger Tor. Die Parksituation auf der Straße des 17. Juni war trotz der fortgeschrittenen späten Stunde chaotisch. Wir quetschten den Wagen in eine Lücke auf dem Mittelstreifen zwischen den anderen dort widerrechtlich geparkten Wagen. In dieser Nacht interessierte sich jedoch niemand für die Parksünder. Von dort lag noch ein Fußweg von zehn Minuten bis zum Brandenburger Tor vor uns. Wir glaubten nicht wirklich daran, dass wir so einfach ohne Visum in dieser Nacht auf die andere Seite der Mauer gelangen würden, dennoch war ich von einer positiven fast kindlichen Aufregung erfasst.

Immer wenn ich mir alte Fotoaufnahmen anschaute, auf denen man Leute sah, wie sie unter dem Brandenburger Tor hindurch flanierten, hatte ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn man eines Tages einfach wieder so durch das Brandenburger Tor spazieren könnte. In den Jahren der Teilung war das Tor unerreichbar. Es befand sich vom Westen aus gesehen auf der anderen Seite und somit trennte mich die Mauer vom Tor. Stand ich auf der damaligen Ost-Berliner Seite, verhinderte eine Absperrung, die sich einige Meter vor dem Tor befand, ein Hindurchgehen. Nur auserwählte Staatsbesucher der DDR durften sich dem Brandenburger Tor nähern. Ich wechselte tatsächlich in jener Nacht das erste Mal ohne Visum die Seiten der Stadt über den am Nachmittag neu eröffneten Grenzübergang in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor. Und dann stand ich direkt vor dem Tor und schaute es zum ersten Mal in meinem Leben aus unmittelbarer Nähe an. Es regnete und ich erinnere mich, dass ich den Regen nur am Rande wahrnahm, so beeindruckt war ich von diesem Moment. Ich stellte mich unter das Brandenburger Tor und berührte es. Es wies noch Einschusslöcher vom Krieg auf und machte einen mehr als restaurierungsbedürftigen Eindruck. Das Tor hatte offensichtlich unter Vernachlässigung gelitten, die der Trennung der Stadt und der dadurch bedingten Position des Tores geschuldet war. Und dann spazierte ich einfach unter dem Tor durch. Von einer Seite auf die andere und dann wieder zurück. Immer und immer wieder.

In dieser Nacht unter dem Brandenburger Tor ging nicht nur ein Kindheitstraum in Erfüllung, sondern in dieser Nacht spürte ich, dass etwas zu Ende ging und etwas Neues begann.

 

Claudia Lekondra