Krieg, das ist immer irgendwo anders

Krieg, das ist immer irgendwo anders. Uns erreichen die Bilder der Kriege, die gerade stattfinden via Internet oder Fernsehen und uns erscheint alles so weit weg. Sie finden auf einen anderen Kontinent oder einer Region statt, mit der uns nichts verbindet. Die Bilder erschrecken und stimmen einen vielleicht für ein paar Minuten nachdenklich, doch dann gehen wir zum Tagesgeschehen über. Die Kriege, die in unserem Land stattgefunden haben, sind uns auch nicht näher. Sie sind Geschichte. Wir lesen Bücher darüber, sehen Dokumentationen und lauschen den Berichten der Zeitzeugen. Bei alledem empfinden wir eine distanzierte Betroffenheit, fühlt sich doch auch hierbei alles so weit weg an. Aber es gab einen Krieg, der in unserer Nähe stattfand, in einem Land, zu dem die meisten auch einen Bezug hatten und zu einer Zeit, die die Generation 40 + bewusst erlebt hat: Der jugoslawische Bürgerkrieg. Schon bei Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 1991 stimmte es mich nachdenklich, dass sich nur wenige Menschen aus unserem Land mit diesem Krieg auseinandersetzten. Und dass, obwohl das damalige Jugoslawien ein beliebtes und von deutschen Urlaubern viel bereistes Land war. Die meisten von ihnen interessierten sich einfach nicht dafür, was der Auslöser dieses Krieges war. Und wie oft höre ich noch heute, dass man jugoslawisch Essen geht. Wenn ich dann darauf hinweise, dass es das nicht gibt, ernte ich entweder einen verwirrten Blick oder ein „Na Du weißt doch was ich meine“. Nein, weiß ich nicht. Nach all den Jahren ist es mir unverständlich, wie man mit so einem Desinteresse darauf reagiert und sich wundert, wenn man zum Beispiel in Dubrovnik selten Cevapcici oder Raznjici auf der Speisekarte findet. Längst bereist man wieder die Regionen des ehemaligen Kriegsgebietes. Kroatien mit seiner schönen Küste an der Adria, den Inseln und den malerischen Altstädten liegt hier ganz hoch im Kurs. Und natürlich soll man hier entspannt seinen Urlaub verbringen und sich nicht ständig vor Augen führen, was hier in den Neunzigern mitunter Schreckliches geschehen ist, aber kann und darf es uns so gleichgültig sein?

Während meines Urlaubes in Dubrovnik erkundete ich unter anderem die 1940 Meter lange Stadtmauer. Bei meinem Rundgang entdeckte ich einen Shop, der auf eine Filmdokumentation über die Belagerung der Stadt während des jugoslawischen Bürgerkrieges in den neunziger Jahren hinwies. Irritiert stellte ich fest, dass sich an diesem Tag außer mir scheinbar keiner der Touristen für diesen Filmvortrag interessierte. So saß ich dort allein und folgte den Filmaufnahmen von Privatpersonen und Journalisten, die die Belagerung der Stadt in den neunziger Jahren zeigten. Kein Kommentar begleitete die Filmaufnahmen, sondern nur die Geräusche der Granateinschläge, Schüsse sowie die Rufe und Schreie von Menschen. Ich erkannte die Straßen und Gassen Dubrovniks wieder, die ich in den letzten Tagen bereits mehrfach entlang flaniert war. Die Häuserfassaden wiesen Einschusslöcher auf, es fehlten teilweise Dächer oder Fenster. Es lag Geröll in den Gassen und hier und dort sah man einen Menschen von einer Deckung aus der Gasse zur nächsten eilen, ansonsten war niemand auf den Straßen unterwegs. Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Die Aufnahmen zeigten Menschen, die in Räumen beieinandersaßen. Manchmal schweigend, manchmal unterhielten sie sich, zwischen ihnen spielten Kinder und im Hintergrund begleitete einen immer wieder das Geräusch der Granateinschläge. Ich sah Männer, die zu einer Seite des Onofrio Brunnen Deckung vor den Scharfschützen suchten, jener Brunnen, um den sich heutzutage so viele Touristen scharen, dass es tagsüber kaum möglich ist, sich den Brunnen anzuschauen. Man konnte sehen, wie auch außerhalb der Altstadt in Dubrovnik die Granaten einschlugen. Dort, wo sich auch mein Ferienappartement befand. Die ohne weitere Kommentierungen aneinander gereihten Filmaufnahmen von den Monaten der Belagerung kamen ohne Worte aus. Nichts lenkte einen von den Bildern ab, die sich dort vor einem abspielten. Man fühlte sich mittendrin und dies nicht nur wegen der Vertrautheit der Plätze, die dort der Schauplatz des Kriegsgeschehens waren. Auch aufgrund der Menschen und deren Kleidung war es schwierig, die Szenen distanziert zu betrachten. Es war nicht wie mit den Aufnahmen während des zweiten Weltkrieges, wo die Art, wie sich die Menschen kleideten und die Art, wie sie ihre Haare trugen, eben eine Distanz schaffte, weil das alles einer Zeit angehörte, lange bevor wir geboren wurden. Weil es bei diesen Aufnahmen aus dieser Zeit schwerfällt, Plätze einer Stadt wiederzuerkennen, da diese sich über die Jahrzehnte derartig verändert haben. Die Altstadt von Dubrovnik hat sich nicht verändert. Die Straßen und Gassen erkennt man auf den ersten Blick wieder.

Die Belagerung der Stadt durch die jugoslawische Volksarmee dauerte von Oktober 1991 bis Juni 1992. Sie forderte den Tod von 114 Zivilisten und 200 Soldaten auf kroatischer Seite. Zum Zeitpunkt der Belagerung befanden sich ca. 15.000 Flüchtlinge in der Stadt. Am 06.12.1991 fand der größte Angriff auf die Stadt statt. Die Armee versuchte, die Bewohner Dubrovniks zu einer Massenflucht zu bewegen. Die Zufuhr von Wasser und Strom war zuvor unterbrochen worden. An diesem Tag gingen 600 Granaten auf die Stadt nieder. So gut wie fast alle historischen Gebäude wurden beschädigt. Dubrovnik und Umgebung war seit den siebziger Jahren ein demilitarisiertes Gebiet. Die Angriffe galten ausschließlich zivilen Objekten und Zielen. Daher wird der Angriff auf Dubrovnik und Umgebung als Kriegsverbrechen gewertet.

Während all die anderen Touristen ihren Rundgang auf der Stadtmauer fortsetzten, ohne sich diese Dokumentation anzuschauen, dachte ich darüber nach, warum ich dort allein saß. Ich war doch nicht die Einzige, die in den achtziger Jahren im damaligen Jugoslawien ihren Urlaub verbrachte. Die dort die Menschen kennengelernt hatte. Ich war doch nicht die Einzige, die bereits Mitte der achtziger Jahre bemerkte, dass das Land gespalten war.

Später saß ich bei einem Glas Wein auf der Terrasse meines Ferienappartements und genoss den malerischen Blick auf die Altstadt. Im Hintergrund glitzerte das scheinbar endlose Meer und am fernen Horizont beobachtete ich ein Kreuzfahrtschiff, das seine Bahnen zog. Im Küstenbereich tummelten sich Segel- und kleinere Ausflugsboote. Die Vögel zwitscherten, in der Ferne hörte man Autos hupen. Während ich dort saß und über den Film nachdachte, schien alles so unwirklich. Die Stadt ist längst wiederaufgebaut und auf den ersten Blick erinnert nichts mehr an den Krieg. Ich hatte zunächst fast ein schlechtes Gewissen, dass ich trotz der Bilder der Belagerung in meinem Kopf und in meinen Gedanken den Ausblick genoss und mich gut fühlte, bis mir klar wurde, dass eben wegen dieser Bilder und Gedanken ich in diesem Moment ein Gefühl von Frieden und Freiheit verspürte.

 

Claudia Lekondra