Die Tagebücher meines Onkels & die Gedanken über unsere Rollen im Leben

Mein vor einigen Jahren im Alter von 86 Jahren verstorbener britischer Onkel hat Tagebuch über sein tägliches Leben geführt. Seit meiner Kindheit ein so vertrautes Bild: Mein Onkel mit einem Pelikanfüllfederhalter in der einen und manchmal mit einer Zigarre in der anderen Hand. Er nahm sich täglich die Zeit, eine Seite über seinen Tag zu füllen. Ich mochte es, meinem Onkel dabei zu sehen, wie er in Gedanken versunken dort saß und schrieb. Für mich wirkte er immer so zufrieden und ausgeglichen. Ich fragte mich in den all den Jahren, was er dort so schrieb, was ihn bewegte. Wenn ich ihn fragte, antwortete er immer, dass es sicher ganz langweilig für mich sei, aber dass ich eines Tages alles lesen und selber beurteilen könne. Zu seinen Lebzeiten vererbte er mir mit dieser Aussage seine Tagebücher. Wusste er doch, dass gerade seine kleine Nichte, die schon seit ihrer Kindheit Romane und Gedichte schrieb, vielleicht genau die richtige Person sein würde, die sich eines Tages seiner Tagebücher annehme.

Und dann lagen sie vor mir. Für jedes Jahr ein Buch seit 1972 bis zu seinem Tod. Und ich nehme mir die Zeit und lese regelmäßig in seinen Büchern. Wenn sich jetzt jemand fragt, ob mir je Bedenken oder Zweifel kamen, die Tagebücher meines Onkels zu lesen, muss ich es verneinen. Ich lese mit der Genehmigung meines Onkels und jeder, der ein Tagebuch führt, muss damit rechnen, beziehungsweise nimmt in Kauf, dass seine Eintragungen eines Tages von anderen gelesen werden. Ich sehe es eher als Vermächtnis eines Zeitzeugnisses an und als wahrlich wertvolles Erbe und gehe sorgsam mit seinen Gedanken, Gefühlen, Hoffnungen und Enttäuschungen, die ich seinen Eintragungen entnehme, um, indem ich sie zum größten Teil für mich behalte. Aber ich komme auch nicht umhin, diesen Eintragungen mit gemischten Gefühlen zu folgen. Da ist zum einen dieses unglaublich schöne Gefühl, dass er durch seine Tagebücher irgendwie noch da ist. Es fühlt sich alles so lebendig an und ich bekomme – wenn man die Eintragungen der Reihe nach liest- tatsächlich ein Gefühl für seinen Alltag, für das Leben, das er geführt hat, das sich doch sehr von dem Leben unterscheidet, was ich führe. Er ist mir dann so nah, so vertraut. Es ist so interessant von einem selber dort zu lesen, von gemeinsamen Urlauben, Feiern und anderen Unternehmungen, die man miteinander geteilt hat. Vieles ist einem eben vertraut, aber da ist auch dieses andere Gefühl, das mich bei manchen seiner Eintragungen überkommt, in denen er mir so fremd ist, dass ich nicht glauben will, dass das, was dort geschrieben steht, wirklich aus den Federn meines Onkels stammt. Dass dies wirklich seine Einstellung und Meinung war. Dieses Bild, was ich dort von ihm bekomme, passt so überhaupt nicht zu dem Menschen, den ich kannte. Das irritierte mich anfänglich und ließ mich darüber nachdenken, was es eigentlich ausmacht, dass wir uns ein Bild von einem Menschen machen. Ist es nicht so, dass wir nur das wahrnehmen können, was jeder bereit ist von sich preiszugeben? Ist es nicht so, dass man mit jedem Menschen in seinem Leben unterschiedlich umgeht, weil man ihm eben in unterschiedlichen Situationen begegnet? Es ist doch eigentlich klar, dass eine Mutter einen anders wahrnimmt als ein Onkel, dass ein Partner in einem etwas anderes sieht als die Kollegen. Dass man für jeden Freund, jeden Bekannten eine andere Rolle in dessen Leben einnimmt. Ein jeder Mensch hat so viele Facetten, die von den Mitmenschen unterschiedlich wahrgenommen werden, weil wir doch alle irgendwie unterschiedliche Rollen im Zusammensein mit unseren Mitmenschen einnehmen. Ich als Nichte habe ihn als Onkel wahrgenommen, nie als Vater, als Ehemann, als Freund oder Kollegen. Also sollte ich nicht in Frage stellen, ob ich ihn wirklich richtig gekannt habe, denn wen kennt man wirklich? Im besten Falle sich selber. Und wenn man über sich nachdenkt, wird man auch feststellen, dass doch die meisten Menschen um einen herum auch nur bestimmte Facetten von einem kennen. Und nach den anfänglichen Irritationen darüber, was ich dort zum Teil lese, habe ich für mich beschlossen, dass egal, was ich auf den weiteren Seiten der noch vor mir liegenden Tagebücher lesen und erfahren werde, er immer der bleibt, der er für mich zu Lebzeiten war. Ein toller liebevoller Onkel, mit dem ich so viele schöne amüsante Augenblicke verleben durfte und der dabei immer ausgeglichen, glücklich und zufrieden wirkte. Und so war es sicher auch. Denn wenn ich mit der Familie auf ihn traf, war er ausgeglichen, glücklich und zufrieden und deshalb habe ich ihn genauso wahrgenommen: Mit sich und der Welt im Einklang. RIP und thank you, dear uncle.

 

Claudia Lekondra